Auf literalaction.com las ich vor einigen Tagen einen Artikel “Yes, the internet is changing your brain”. Die Überschrift verwunderte mich. Mr. Obvious? Natürlich verändert auch das Internet mein Gehirn – wie alles um mich herum mit dem ich mich beschäftige und mit dem ich in Berührung komme. Da bin ich auch unglaublich froh drüber, denn nur so gelingt es mir (mehr oder weniger) mit meiner Umwelt zurecht zu kommen. Der Mensch verändert seine Umwelt, die Umwelt verändert ihn. Das Lesen des Artikels war für mich dann auch irgendwie wie ein Krimi, bei dem man ganz zu Beginn den Mörder schon kennt und wo man im Laufe des Buches genau auf das erwartete Ergebnis kommt. Aber manchmal machen eben auch Details ein den Reiz aus. Und so fühlte ich mich zum Teil bestätigt und zum Teil mit neuen Informationen zu bekannten Aspekten versorgt. Und ich habe einige eigene Gedanken dazu – und ich persönlich bin ein Fan von Texten, die das eigene Denken anregen!
N. Carr wird in dem Artikel zitiert. Und Carr ist wenig erfreut über die Tatsache, dass er an sich selbst feststellt, wie seine Konzentration in vielen Bereichen einfach flöten geht und ihm Dinge zunehmend schwerer fallen, die früher einfach waren. Nun bekomme ich ja sofort Stacheln, wenn jemand mit der “früher war alles besser” Nummer ankommt und schalte unmittelbar in den Widerlegungsmodus. Wobei – Carr hat recht. Das Problem ist aber nicht, wie er vermutet das Internet, sondern eine Vielzahl von Veränderungen, die in den letzten Jahrzehnten stattgefunden haben: Mein Apple ][ konnte (eine extrem coole) Textverarbeitung auf einem 80×24 Zeichen Bernsteinmonitor darstellen. Mein Atari ST war in der Lage neben einer ebenfalls ziemlich guten Textverarbeitung ein paar speziell für diesen zweck programmierte Anwendungen nebenbei auszuführen, wie z.B. einen Taschenrechner, einen Kalender und was sonst noch sinnvoll sein könnte. Unter MINIX hatte ich dann schon echtes Multitasking, das aber in der Regel nur für die Aufbereitung von Informationen im Hintergrund verwendet wurde. Dann kam X-Windows auf einem 386BSD, bei dem auch noch das Multitasking hauptsächlich für das Zusammenführen von Informationen genutzt wurde. Mit Chatprogramm, Webbrowser, Mailer und RSS-Ticker versuchen heute jedoch gleich mehrere Programme meine Aufmerksamkeit für sich zu beanspruchen. Werbung unterbricht heute jeden Film im Fernsehen – weshalb das Medium nahezu unbenutzbar geworden ist. Werbeplakate werden extra hin und her gerollt, um als bewegtes Objekt die Aufmerksamkeit auf der Straße auf sich zu ziehen. Mein Telefon blendet in diversen Anwendungen gezielt Werbung ein, um mich von eben dieser Anwendung abzulenken. Wenn ich in einer Suchmaschine etwas suche, wird mir Werbung angezeigt, die auf den gesuchten Begriff getrimmt ist, um mich auf “andere Wege” zu schicken. Wir werden täglich mit Gigabytes an Spam-Mails zugeschossen usw. usw.
Ich will darauf hinaus, dass wir in einer Welt leben, die wir uns selbst zur Ablenkung geschaffen haben. Warum schreibt mir mein Mobilfunkanbieter keinen Brief, sondern will mich immer anrufen? Er unterbricht mich garantiert bei irgendetwas. Zeitungen schreiben heute mehr voneinander ab und recherchieren oft nicht einmal mehr selbst und leider passiert das auch immer wieder bei Fachartikeln, auf deren fehlerhaften und wenig fundierten Behauptungen Entscheidungen getroffen werden. Fastfood für den Kopf. Hauptsache es ist sauber portioniert und aufbereitet und kann genauso rund konsumiert werden.
Der Mensch ist für Multitasking nicht gebaut. Wir sind am leistungsstärksten, wenn wir uns auf eine Sache konzentrieren. Also arbeiten wir gegen uns. Schade! Die gute Nachricht ist: Wir sind dem nicht machtlos ausgeliefert! Gerade sitze ich in Ruhe vor einem schwarzen Bildschirm mit grüner Schrift (Geschmackssache) und habe nichts, als den Text vor mir und einen Zettel (ja, totes Holz) rechts neben mir, auf dem Notizen stehen. Keine Musik, kein Fernseher läuft, nur das leise Rauschen des Mac mini und der zwei externen Festplatten hier. Ruhe. Fokus. Es geht!
Ein Teilaspekt des literalaction.com Artikels ist das lineare Lesen, das bei herkömmlichen Büchern üblich ist im Gegensatz zum nicht-linearen Lesen, das durch Hyperlinks im WWW begünstigt wird. Es gibt einfach Gedanken, die Zeit brauchen und auf die sich ein Leser einstellen muss. Gedankliche Sprünge, vor denen man sich sozusagen erst einmal warm machen muss. Es gibt aber auch Artikel, die einem Zusammenhänge zeigen möchten und dies durch viele andere Artikel belegen. Manchmal suche ich aber auch einfach Informationen, die ich nicht an Ort und Stelle aber nach dem zweiten oder dritten Link finde.
Es gab eine Zeit, da habe ich Artikel im Internet geschrieben, wie auf dem Papier. Ich habe Endnoten gesetzt, über die man dann an die Verweise gekommen ist. Ich ging davon aus, dass ein Leser zunächst meinen Artikel in Gänze konsumieren wird und sich dann an die Quellenangaben macht. Das ist eine Bevormundung der Leser. Jeder kann einem Link folgen, wenn er Hintergrundinformationen sucht oder kann ihn aufsuchen, um das Thema zu vertiefen wann und wie es ihm gefällt.
Nebenbei bemerkt hat sich das Buch gegenüber der Schriftrolle genau deshalb durchgesetzt, weil man bestimmte Informationen darin direkt aufblättern kann und eben nicht immer linear lesen muss. Wer also Hyperlinks verteufelt, sollte nicht zurück zum Buch, sondern zur Schriftrolle.
Ich persönlich nutze verschiedene Tricks: Zum einen sammle ich Links aus Twitter, Facebook, RSS-Feeds und E-Mails in Instapaper und lese dann alles nacheinander auf meinem E-Bookreader. Das Sequenzialisiert zum einen die Texte, verleitet nicht zum Linkhopping und bringt mir die Informationen auch noch auf ein extrem gut lesbares Medium.
Organisatorisch trenne ich damit die Phasen des Sammelns von Artikeln und des Lesens und strukturiere mich damit. Meist setze ich mir dann Lesezeichen und mache mir Notizen, um später etwas mit den Informationen anzufangen und meinen Nutzen daraus zu ziehen. Manchmal lese ich dann aber auch Artikel lieber am Mac, weil ich einige Dinge nachschlagen muss oder sehr viel dazu notieren möchte, dass ich später nicht noch mal übertragen will. Manchmal sind es aber natürlich auch Kombinationen aus allem.
Wenn ich Links in Artikeln folge, nutze ich meist ein Fenster für ein “Hauptthema” und Tabs für die einzelnen Artikel darin. Wird ein neuer Tab zum neuen Hauptthema ziehe ich ihn raus und mache ein neues Fenster daraus. Was ich heftig mit Notizen versehe, wandle ich mir in PDFs und nutze die Kommentarfunktion. Was ich noch suche ist ein noch “einfacherer” direkterer Weg, in Webseiten rein zu schmieren (natürlich nur für mich – wie Defacements funktionieren, weiss ich) und sie dann wieder zu finden.
Aber noch mal zurück zum Ausgangsartikel: Trainnierte Googler nutzen sehr viel mehr Gehirnteile beim Suchen von Informationen im Internet, als auf anderen Wegen. Klingt erst einmal gut. Aber mindestens ein Aspekt hier ist die geringe Aufarbeitung der Informationen. Zum einen ist positiv, dass der Leser selbst eine Bewertung vornehmen kann, negativ ist, dass er es muss. Und so fördere ich für mich beide Varianten. Das redaktionell aufbereitete und die eigenen Recherchen – wobei man nie vergessen darf, dass der Filter spätestens in der Suchmaschine einsetzt – faktisch aber noch viel viel früher, so dass es nur die Frage gibt, wie stark und von wem etwas für mich “aufbereitet” vorliegt.
Das Fazit des Artikels ist übrigens sehr gut – und ich habe ihn komplett und linear gelesen. Abschließen stelle ich für mich fest, dass ich nicht “allways-on” bin. Neben Besprechungen und beim Lesen bestimmter Texte, nutze ich auch beim Schreiben z.B. das Internet eine gewisse Zeit gar nicht. Dafür stelle ich es nicht zwangsweise aus. So viel Selbstbeherrschung besitze ich schon, dass ich nicht nur weil es da ist auf das Icon unten links drücken muss. Nebenbei habe ich auf meinem Desktop das meiste ausgeblendet. Programme wie WriteRoom oder WriteMonkey helfen, beim Text zu bleiben. Aber auch spartanisch ausgestattete Netbooks sind eine Chance, sich das Konzentrieren leicht zu machen.
Ansonsten empfehle ich unterschiedliche Orte für unterschiedliche Tätigkeiten: Die gute alte Leseecke und der Fernsehsessel sind halt was anderes, als der Schreibtisch. Der Positionswechsel tut auch Rücken und Co mal ganz gut. Und wo wir schon beim Gehirn sind. Es werden bei der Bildschirmarbeit andere Gehirnareale genutzt, als beim Arbeiten auf dem Papier. Knifflige Aufgaben bearbeitete ich daher auf verschiedenen Medien und auch gerne an der Tafel. Man will ja alles von dem bisschen Gehirn nutzen, was man kriegen kann. Zumindest der Placeboeffekt ist bei mir hervorragend.
Auch in der Zeit des Internets kann jeder bestimmen, wie er sein Gehirn weiter entwickeln möchte und ob oder wie er für Konzentration sorgen will.